Jedem das Seine!
Unwort Spießigkeit – wie Intoleranz umetikettiert wird

Gerne und oft wird das Attribut “spießig“ benutzt, um Menschen oder Dinge zu bewerten. Dabei übersehen wir oft, dass Spießigkeit ein weitgehend undefinierter Begriff ist, der fast ausschließlich in negativer Konnotation gebraucht wird und Mitmenschen diskreditiert. Dabei muss spießig nicht automatisch schlecht sein. Der Gentleman-Blog klärt auf.
Spießigkeit als undefinierter Begriff
„Das finde ich total spießig!“, „Nein schau mal, wie sieht der spießig aus!“, „Oh, diese Wohnung ist aber total spießig eingerichtet“. Solche und ähnliche Aussagen haben wir schon dutzendfach von Freunden, Bekannten oder Arbeitskollegen gehört und uns wenig dazu gedacht. Dabei lauert in diesen Formulierungen der gefährliche Stachel der Intoleranz.
Was ist eigentlich Spießigkeit?
Dabei kann Spießigkeit niemand so recht definieren. Spießig ist eben spießig. Die meisten Menschen meinen damit jemanden, der altmodisch, antiquiert und in seiner Weltsicht reaktionär ist – all das, was wir selbst natürlich nicht sind. In dieser egozentrischen Sichtweise vergessen wir gerne, dass wir ebenfalls nicht das Maß aller Dinge sind. Auch wir betrachten unsere Welt ausschließlich aus unserer kleinen Warte aus und haben keinesfalls den globalen Durchblick, auch wenn wir Berlin-Kreuzberg wohnen, Fallschirmspringen betreiben und beim Tibeter essen gehen. Was gibt es uns das Recht, uns über einen Familienvater im ländlichen Villingen-Schwenningen zu stellen, in dem wir ihn mit dem Negativattribut „spießig“ versehen? Ist es spießig, wenn sich jemand so einrichtet, dass er sich in seinen eigenen vier Wänden wohlfühlt? Sind Teenager, die ihre iPhones mit Schutzfolien überkleben und jedem Kratzer hinterher weinen, weniger spießig als der Frührentner, der wöchentlich mit der Nagelschere den Rasen kürzt?
Urteilen über Andere
Selbstgefällig schwingen wir uns gerne zum Richter über andere Menschen auf, um dann bequem aus erhöhter Warte über andere urteilen zu können: Zieht sich dieser Mensch richtig an? Wie richtet er seine Wohnung ein? Welchen Lebenswandel hat er? In welcher Liebesbeziehung lebt er? Ist das so in Ordnung, wie er die Dinge macht? Gemeinsames Lästern macht Spaß und sorgt für ein kurzzeitiges, aber oft trügerisches Gemeinschaftsgefühl, bei dem man sich in der Gruppe stark fühlt, weil ein anderer gesellig niedergemacht wird.
Wer meint, die Welt verändern zu wollen, sollte bei sich selbst beginnen und sich in Toleranz üben oder Überzeugungsarbeit leisten. Wir machen uns oft zu wenig bewusst, dass alle Menschen immer das Ergebnis der Erfahrungen und Erlebnisse ihrer Vergangenheit sind. Niemand ist von Geburt aus cool oder spießig. Und wenn einem die Einstellungen des Anderen nicht gefallen und man von seinem eigenen überzeugt ist, muss das Motto immer lauten: „Mit Worten überzeugen statt verurteilen“. Man kann nämlich niemals die Vergangenheit seiner Mitmenschen ändern, aber deren Zukunft!
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Getroffene Hunde bellen ;)
Volle Zustimmung. Es nötigt mir immer ein Schmunzeln ab, wenn selbsternannte Weltbürger es für den Gipfel von Geschmack und Lebensart halten, wenn sie „Socken in Sandalen“ als (angeblich) „typisch deutsche“ Entgleisung brandmarken.
Sehr schöne Denkanstöße… Ihr Blog hier betreibt wirklich Persönlichkeitsbildung;-)
Beiträge wie dieser oder vorallem der mit dem Volksfest als Metapher für das Leben gefallen mir sehr gut. Bitte mehr davon!