Der emanzipierte Gentleman
Bauchgefühl statt Perfektion
Der Rat von Experten ist etwas Tolles, sich daraus ein Korsett zu schneidern nicht. Überlassen Sie die Perfektion den Romanfiguren, und hören Sie auf dem Weg zum Gentleman stattdessen ruhig öfter auf Ihr Bauchgefühl. Es würzt den Alltag mit jener Prise Unberechenbarkeit, die für die Entwicklung eines persönlichen Stils unerlässlich ist. Vor allem aber sorgt es dafür, dass die Lebensfreude nicht an einem allzu straff gebundenen Krawattenknoten erstickt.
Das Spiel mit dem Stil
In unserer ratgebergläubigen Welt ist es kein Wunder, dass die Entstaubung des Begriffes »Gentleman« eine Flut von guten – oder zumindest gut gemeinten – Tipps, Tricks, Do’s and Dont’s nach sich zieht. Die meisten davon drehen sich um das perfekte Auftreten und Outfit, ganz nach dem Motto: »Wo die Fassade stimmt, wird das Innenleben schon passen.«Dieser Ansatz ist leider ebenso pragmatisch wie falsch, denn wenn die Form starren Regeln zu gehorchen hat, bleibt der Inhalt auf der Strecke. Stoßen Sie deshalb die unerreichbaren Ideale vom Sockel, und entdecken Sie Schritt für Schritt die Lust am Spiel mit dem Stil wieder.
Schritt 1: Pfeifen Sie (zumindest ab und zu) auf Kleiderregeln.
Braune Schuhe zu schwarzem Gürtel? Ein Affront! Im Hawaiihemd zu den Schwiegereltern? Ein Skandal! Doch sind solche Modesünden wirklich so schlimm, wie man uns weismachen will? Wohl kaum, immerhin hat unsere Zivilisation selbst die ästhetisch grenzwertigen 1980er Jahre weitgehend unbeschadet überstanden. Außerdem haben die meisten Leute im Alltag Besseres zu tun, als sich Stilnoten für ihre Mitmenschen zu überlegen. Wagen Sie bei der Wahl der Garderobe darum ruhig ab und zu ein Experiment – einige Züge gegen den Strom zu schwimmen, macht Spaß und festigt den Charakter.
Schritt 2: Machen Sie Schluss mit Standesregeln.
Da Sie nun keine Angst vor stilistischen Fauxpas mehr haben müssen, sollten Sie dieses Recht auch anderen einräumen. Das bedeutet konkret, dass Sie schleunigst damit aufhören sollten, andere nur nach ihrem Äußeren zu beurteilen. Wer weiß, vielleicht hat der alternde Hippie auf dem Nebensitz ja ebenfalls diesen Artikel gelesen und ist in Wahrheit Ihr neuer Chef? Vielleicht aber ist er auch bloß ein Penner, der in seinem Leben weniger Glück gehabt hat als Sie. Ganz sicher aber spielt das eigentlich keine Rolle, denn ein Mindestmaß an Respekt haben alle Mitmenschen verdient.
Schritt 3: Entrümpeln Sie Ihre Tischregeln.
Was passiert, wenn Linkshänder die Gabel rechts halten, oder wenn Rotwein aus Weißweingläsern geschlürft wird? Ganz einfach: nix. Weder verschieben sich die Polkappen, noch regnet es Feuer vom Himmel. Denn solche und ähnliche Regeln stammen aus einer Zeit, in der die bessere Gesellschaft nichts Besseres zu tun hatte, als sich immer mehr und immer unsinnigere Regeln auszudenken, die es zu beachten galt, um dazuzugehören. Heute haben wir das Glück, in einer Welt zu leben, die auch so schon kompliziert genug ist. Deshalb darf man sich guten Gewissens von diesen alten Zöpfen trennen und das Leben damit für sich und andere ein ganzes Stück vereinfachen.
Schritt 4: Fürchten Sie sich nicht vor Verhaltensregeln.
Nicht nur auf dem Tisch haben unsere Vorfahren ihre Fallen verteilt, auch das gesellschaftliche Parkett ist voll davon. Wie begrüßt man die Gastgeber? Wie stellt man sich vor und wem? Worüber spricht man und was ist tabu? Wer hier nichts falsch macht, ist entweder ein Naturtalent oder gecastet. Den meisten Normalsterblichen bleibt jedoch nichts anderes übrig, als auf den gesunden Menschenverstand zu vertrauen und den eigenen Schwächen mit Charme und Humor zu begegnen. Eine Erfolgsgarantie dafür gibt es nicht. Aber immerhin garantiert ein zünftiger Tritt ins Fettnäpfchen, dass Ihr Auftritt unvergessen bleibt. Und genau darum geht es eigentlich bei solchen Anlässen.
Schritt 5: Machen Sie Ihre eigenen Regeln.
Die Tipps in diesem Artikel wurden nach bestem Wissen und Gewissen abgefasst. Nichtsdestotrotz entsprechen Sie der subjektiven Denk- und Handlungsweise des Autors und sollen deshalb – wie alle guten oder gut gemeinten Ratschläge – reflektiert, hinterfragt, den eigenen Bedürfnissen und Möglichkeiten angepasst und gegebenenfalls auch schlichtweg ignoriert werden. Denn die wichtigste Meinung ist immer jene, die Sie sich selbst bilden. Und dabei wünsche ich Ihnen jetzt viel Spaß und Erfolg.
Der Autor
Der Schweizer Bohemien Lindo Ganarin mit italienischen Wurzeln arbeitet als Creative Director in Bern und bloggt nebenbei über Dinge, die die Welt zu einem liebens- und lebenswerten Ort machen.
Lieber Herr Bäkermann
Es gibt doch diese schöne Redensart: Wer nicht mit der Zeit geht, muss mit der Zeit gehen.
Das sehe ich ähnlich und so sieht es anscheinend auch der Autor Herr Ganarin, wenn er uns seine Meinung darlegt, was er sich unter einem zeitgemässen Gentleman vorstellt.
Das ist ja auch nicht des Autors einziger Text, den er darüber geschrieben hat. Doch ich teile seine Meinung uneingeschränkt. Es bringt niemandem etwas, wenn man Regeln, die auch früher schon teilweise schlicht und einfach Unsinn waren, eins zu eins in unsere aktuelle Zeit „herüberretten“ möchte. Sie wirken dann nicht nur aus der Zeit gefallen, sie sind es auch. Besonders auch solche, welche die Garderobe betreffen.
Ich jedenfalls hab mich beim Lesen von Herrn Ganarins Texten köstlich amüsiert. Gerade im Wissen darum, dass er einen herrlichen Kontrapunkt zu sehr vielen Meinungen in diesem Blog setzt.
Und nein, Herr Bäkermann, der Artikel ist mitnichten stillos. Das pure Gegenteil ist der Fall. Ansonsten haben wir beide eine komplett unterschiedliche Sicht auf das, was guter Stil ist.
Danke Herr Ganarin, sie sollten sich vielleicht mal daran wagen, den Knigge in ihrem Sinne und zeitgemäss neu zu schreiben.
Ich halte diesen Artikel für stillos. Was dort beschrieben wird, hat kaum etwas mit einem Gentleman zutun.
toller artikel, der alle anderen auf dieser website als nicht in stein zu meißelnde enthüllt. leider ist das bild eines gentleman oft heutzutage das eines völlig stromlinienförmig-emanzipierten herren und nicht das eines ehrlichen charmanten mannes, der konsequenz seinen prinzipien treu bleibt, seinen weg geht und ein kleines zeichen setzt für die menschen der zukunft, durch die vision, die er einst hatte und erfüllte.
Ich empfehle dem Autor den Text „Große Jungs im Karnevalskostüm“ von Alexander Grau“ auf Cicero-online unter der Rubrik Stil.
Braune Schuhe zum schwarzen Gürtel. Der Autor ist ein Punk! Danke für diesen herrlichen wie wahren Artikel.