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Fremdscham-TV – Das moderne Kuriositätenkabinett

Fremdscham-TV – Das moderne Kuriositätenkabinett

Gerne fühlen wir zeitgenössischen Menschen uns moralisch überlegen. Auch gegenüber vergangenen Generationen. Über dunkle Kapitel wie beispielsweise die Kuriositätenschauen des 19. und 20. Jahrhunderts können wir nur empört die Nase rümpfen und kollektiv den Kopf schütteln. Doch sind wir wirklich heute so viel besser? Die Kuriosenkabinette gibt es immer noch. Sie begegnen und jeden Tag. Im Fremdscham-TV.

Das Fernsehen, ein Ort des wohligen Schreckens

Wir westlichen Menschen des frühen 21. Jahrhunderts wähnen uns oft an der Spitze der moralischen Entwicklung. Gerne empören wir uns über andere, brechen über ihr Verhalten oder ihre Taten den Stab und fühlen uns gut dabei, eben überlegen. Dabei ist viel Heuchelei im Spiel: Morgens mit der S-Bahn schwarz fahren, Mittags die Steuerbehörde austricksen und Abends am Stammtisch über unanständigen Politiker und Manager schimpfen. Und falls die Gegenwart mal wenig Empörenswertes bietet, schauen wir auch gerne mal auf die Menschen vergangener Jahrhunderte und Epochen herab und verurteilen deren Dummheit, Aberglauben oder Primitivität. Die damaligen Lebensumstände vergessen wir bei diesen Bewertungen gerne. Unter diese gängige Betrachtungsweise fallen auch die Kuriositätenschauen auf den Jahrmärkten des letzten Jahrhunderts. Von listigen Geschäftsleuten organisiert, wurden hier dem Zuschauer vermeidliche Sensationen dargeboten, oft unter dem dünnen Deckmäntelchen von Volksbildung und Wissenschaftlichkeit. Präsentiert wurden Menschen mit dunkler Hautfarbe oder Menschen die aufgrund von Behinderungen oder Krankheiten körperliche Mißbildungen aufwiesen. So wurde beispielsweise aus dem Polen Stephan Bibrowsky, der unter der krankhaften Ganzkörperbehaarung Hypertrichose litt, das Sensationsobjekt “Lionel der Löwenmensch“. Das Publikum war begeistert, registrierte einen wohligen Schauer und ein verbindendes Gemeinschaftsgefühl. Was einerseits absonderbarlich und abschreckend war, weckte anderseits die Neugier. Die Menschen zahlten bereitwillig Eintrittsgeld, um diese Kreaturen anglotzen zu können. Gut, dass wir nicht so sind, werden die meisten Zuschauer gedacht haben. Wir sind besser. Wir sind überlegen.

Fremdscham-TV als Gemeinschaftserlebnis

Heute sind solche fragwürdigen Attraktionen glücklicherweise Geschichte. Trotzdem sind wir keine besseren oder grundsätzlich anderen Menschen als die sensationslüsterne Massen auf den Jahrmärkten des 19. und 20. Jahrhunderts. Unser Denken und Handeln folgt immer noch denselben Grundmustern wie zu Zeiten des amerikanischen Zirkuspioniers Phineas Taylor Barnum. Bester Beweis: Die hohen Einschaltquoten  bei sogenanntem Reality-TV im deutschen Privatfernsehen. Diese als Unterschichtenunterhaltung geschmähte Formate, dieses Fast-Food-Fernsehen ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen – Motto: Einmal schnelle Emotion zum Mitnehmen, mit deftigem Heulkrampf und einer Portion Fremdscham extra.

Gesprächsthema Nummer 1

Ob auf dem Schulhof, in der Mensa oder im Büro: Die neusten Peinlichkeiten der letzten Folge einer Landwirte- oder Schwiegertöchterverkupplungssendung sind oft Gesprächsthema Nummer Eins. Über die Protagonisten dieser Formate darf dann kollektiv und mit ausdrücklicher Erlaubnis der Gesellschaft gelacht und gelästert werden. Über die Frau, die Gesprächsnachmittage mit ihren Barbie-Puppen veranstaltet, über die schüchterne 40+ Jungfrau, die immer noch bei Mami im Kinderzimmer wohnt oder über die vollschlanke Dame mit dem schwarzen Vollbart. Fremdschämen macht auch irgendwie Spaß, wenn man mit den Hauptdarstellern nichts zu tun hat und nur eine Beobachterrolle innehat. Lästern schafft wohliges Gemeinschaftsgefühl. Gut, dass wir nicht so sind, werden die meisten Zuschauer denken. Wir sind besser. Wir sind überlegen.

Selber schuld?

Wozu sich dafür schämen, diese Leute haben sich doch freiwillig dazu entschieden sich bei Tag und Nacht von sensationsgeilen Privatfernsehmachern filmen zu lassen, Zusammenschnitt der peinlichsten Momente mit passender Musikuntermalung inklusive. Wirft man allerdings einen Blick auf die intellektuellen Kapazitäten eines durchschnittlichen Protagonisten, erscheint fraglich ob diese, die Tragweite ihrer Entscheidung „endlich mal im Fernseher zu sein“ in ihrer Gänze erfassen können. Die Zuschauer haben den Protagonisten bald wieder vergessen und verurteilen denn schon den nächsten aus dem Kuriosenkabinett. Doch in seinem persönlichen Umfeld muss der zur Lächerlichkeit preisgegebene Talkshow-Gast, Superstar-Kandidat oder Doku-Soap-Darsteller noch viele Jahre damit leben und versuchen damit klarzukommen. Die mediale Präsenz ist ihnen zumindest, dank YouTube und Konsorten, dauerhaft sicher. Auch ein Gentleman kann diesen moralischen Konflikt über gutes und schlechtes Fernsehen nicht lösen. Er kann nur, ganz im Sinne der Menschlichkeit, handeln und einfach abschalten.

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Kommentare (4)

  1. Mignon
    Mrz 9, 2012

    Anscheinend ist nichts aufbauender für den normalen RTL-Gucker als zu sehen, dass es irgendwo da draussen noch einen gibt, der noch bemitleidenswerter ist als man selbst.

  2. Mrz 9, 2012

    Er kann nur, ganz im Sinne der Menschlichkeit, handeln und einfach abschalten.

    eben… abschalten.
    Warum kopiert denn niemand dieses Verhalten.

    Auch wenn ich mich jetzt hier als Neandertaler oute: Ich habe keinen Fernseher!
    (vielleicht wird das mal das Thema einer nächsten Doku-Soap: Leben ohne Fernseher? – NEIN! Ich will nicht darin vorkommen und ins Fernsehen!)
    :-)

  3. Mrz 5, 2012

    Diese ganzen Fremdschäm und Trash Formate wären halbewgs erträglich, wenn nicht jeder Sender die gleichen Formate in lediglich leicht abgeänderter Fassung bringen würden.

  4. Tom
    Mrz 5, 2012

    Ein sehr guter Artikel!!! Genau beobachtet, wunderbar analysiert und reflektiert und gut gewchrieben! Und eine Meinung, die mir sehr aus der Seele spricht! Ich selbst habe mich vor kurzem nach längerer Überlegung dazu entschieden, RTL und RTL2 aus meiner Senderliste komplett zu löschen. Dafür sind andere Spartensender der öffentlich rechtlichen (zdf.kultur, zdf.neo usw) weiter nach Vorne gerückt. Bis jetzt habe ich meinen Entschluss noch keinen Tag bereut und erstaunlicher Weise vermisse ich beim abendlichen TV-Programm… absolut nichts. Ich denke, ich werde sogar demnächst noch weitere Sender verbannen.

    Beste Grüße,
    Tom

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